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14. März 2021 #reflection

Bewusstheit befreit von Schuld

geschrieben von Kai Stammler

In unserer Gesellschaft ist die Schuldfrage überall präsent. In Nachrichten, in der Politik, in den Unternehmen, in Schulen, in unseren Familien, und ja, in jeder unserer Beziehungen ist es die Schuldfrage und Schuldzuweisungen, die zu Streitigkeiten und zur riesengroßen Last führt.

Für alles und jeden gilt es einen Schuldigen zu finden und die Schuld bleibt allgegenwertig. Wir berauben uns der Unschuld beziehungsweise der unschuldigen Wahrnehmung ohne Wertung und Urteilen als eines der zentralen Elemente der Bewusstheit, die alle Missverständnisse aufdecken und sie aus unseren Leben entfernen könnte.

Also warum ist die Schuld in unserer Gesellschaft so allgemeinpräsent? Weil sie das Instrument der Manipulation ist. Wenn wir die Schuld verteilen, haben wir den anderen im Griff. Wir machen dem Gegenüber ein schlechtes Gewissen und versuchen ihn oder sie durch die Schuldzuweisung uns untertan zu machen und so zu kontrollieren.

Gerade unseren Kindern, die so unschuldig zur Welt kommen und sich in ihrer unschuldigen Wahrnehmung so frei und lebendig fühlen, schränken wir durch Beurteilen und Beschuldigen eines ihrer wichtigsten Grundrechte ein, nämlich das Grundrecht auf Freiheit. Ob wir es unbewusst in Kauf nehmen oder ihnen bewusst Schuld suggerieren – du bist unartig, weil du das Glas umgestoßen hast – wir nehmen ihnen damit ihre Freiheit und das Recht auf ein unbeschwertes Leben.

Deshalb nimm dir bitte etwas Zeit und lass uns die Entstehung des Schuldgefühls genauer betrachten! Das Schuldgefühl beeinträchtigt – neben dem Gefühl der Angst – deine Lebenssituationen am Stärksten. Die Schuld nimmst du direkt wahr, indem du dich für etwas oder jemandem gegenüber schuldig fühlst. Ja, es kommt sogar vor, dass dich jemand von einer Schuld freispricht, du dich aber trotzdem schuldig fühlst. Oder du fühlst dich für etwas schuldig, ohne dass darüber je gesprochen wurde, weil es ein altes Muster in dir ist. Es kann aber auch sein, dass dir jemand für etwas die Schuld gibt, du dich aber gar nicht schuldig fühlst. Ja, auch das gibt es.

Und wenn du dich jetzt reflektierst, dann stellst du dir vielleicht die Frage: Warum fühle ich mich einmal schuldig und einmal nicht? Die Antwort liegt auf der Hand. Dein Gefühl von schuldig sein, hängt einzig und allein davon ab, wie du selbst darüber denkst. Das heißt schlussendlich, niemand kann dich für irgendetwas schuldig machen, es sei denn, du entscheidest dich dafür, selbst schuldig zu sein.

Wie entsteht also die Schuld in dir? Schuld in dir entsteht immer dann, wenn du unachtsam bist. Dann bist du dir deiner Gedanken gerade nicht bewusst. Deine unbewussten Gedankenmuster starten in deiner Unachtsamkeit unmittelbar und automatisch und du beginnst eine Situation, eine Person oder dich selbst zu bewerten. Und die Bewertung erfolgt aus deinen abgespeicherten Erfahrungen der Vergangenheit.

An diesem gespeicherten Gedankenmuster hängt nun die alte Schuld und das Schuldgefühl, das automatisch in dir aufsteigt, egal ob es der Situation angemessen ist oder nicht. Bleibst du in der Unbewusstheit, hast du keine Chance, dem Schuldgefühl zu entgehen. Wenn das Schuldgefühl in dir wach geworden ist, dann hast du eine Bewertung vorgenommen und ein Urteil über dich oder jemand anderen gefällt.

Jetzt wird es etwas komplexer! Es ist so, dass du nur über etwas oder jemanden urteilen kannst, wenn dich selbst schon mal jemand für eine ähnliche Sache verurteilt hat und du die Schuld angenommen hast. Und das ist ganz entscheidend. Hättest du das nicht, würdest du die Schuld nicht kennen und könntest dir in dem Moment kein Urteil bilden, weil die Information und die damit verbundene Emotion in dir gar nicht vorhanden wäre. Die Schuld muss also noch in dir sein, sonst könntest du dir oder einem anderen gar nicht die Schuld geben.

Vergleich es doch mal mit einer ersten Reaktion eines Kindes, das zum ersten Mal etwas kaputt macht. Das Kind hat noch kein Schuldgefühl und ist ohne Wertung, da es keine Wertung in sich hat. Erst durch die Reaktion im Außen erkennt es, ob es schlimm ist oder nicht und beginnt die Situation zu werten. Und je intensiver die Wertung im Außen war, desto schuldiger wird sich das Kind fühlen. Daher sollten wir immer darauf achten, wie groß wir das Drama machen, wenn wir unsere Kinder maßregeln, denn durch unsere Reaktion bekommen die Kinder die Intensität ihres Schuldgefühls und behalten es erst einmal.

Doch kommen wir zum Kern der Sache. Du hast dich also in deiner Vergangenheit mal schuldig gemacht. Und deine Schuld ist in deinem Unterbewusstsein immer noch vorhanden. Sie wird von deinem Gedankenmuster immer wieder automatisch hervorgeholt. Du bewertest dann unbewusst weiter und nimmst die Schuld direkt wahr. Sie liegt als schwere Last auf deiner Seele.

Solange du das Muster der Schuld in dir nicht betrachtest, bewertest du weiter. Und bitte mach dir nochmal bewusst, was eigentlich geschieht. Bewerten heißt beurteilen, beurteilen heißt urteilen und urteilen heißt verurteilen!

Ist dir jetzt klar, dass du mit jeder Bewertung ein Urteil fällst und dich oder jemanden anderen schuldig sprichst? Dass du mit jedem Urteil über einen anderen, dich über ihn stellst und sogar über ihn richtest? Und dass du aus deiner eigenen Schuld heraus, dir selbst noch nicht vergeben hast. Ist das ein Spiel, das du spielen möchtest?

Achtung ein Exkurs: deine Schuld zeigt sich auch noch anders! Dein Verstand ist sehr trickreich. Auch eine Schuld, die du automatisch in deiner Unbewusstheit nach außen auf jemand anderen projizierst, ist eigentlich deine eigene Schuld. Du projizierst sie unbewusst auf jemand anderen, weil du dich nicht wieder schuldig fühlen willst. Das Projizieren ist dein Abwehrmechanismus, damit du deine eigene Schuld nicht sehen und ertragen musst.

Um diese Abwehr kümmert sich dein Ego-Verstand. Dein Ego sorgt durch die Projektion nach außen dafür, dass du dich nicht schuldig fühlst. Was das Ego dir aber verschweigt, ist, dass durch die Projektion die Schuld in dir nicht verschwindet. Das Ego hat durch den Trick der Projektion deine Schuld nicht gemindert, was es dir aber weiß machen will. Die Projektion macht immer den anderen verantwortlich und schuldig und du kommst nicht auf die Idee, die Lösung bei dir zu suchen.

Wie erkennst du nun deine Schuld und kannst sie auflösen?Die Schuld in dir zeigt sich also in zwei Varianten. Einmal bewusst, indem du dich wirklich schuldig fühlst. Und einmal unbewusst als Projektion, indem du über etwas oder jemanden im Außen richtest.

Wenn du also akzeptierst, dass jede Schuld, sei sie bewusst in dir oder unbewusst nach außen projiziert, ein Schuldthema in deinem Inneren ist, hast du den ersten Schritt zur Auflösung deiner Schuld getan. Der zweite Schritt liegt nun darin, dir deine Schuld zu vergeben, denn du hast erkannt, dass es immer deine eigene ist. Das heißt nicht, dass du die Aktion eines anderen gutheißen musst. Es heißt nur, dass du die Schuld in dir selbst betrachten sollst. Nur in dem du dir selbst vergibst, kannst du auch dem anderen wirklich vergeben.

Wie kannst du dir vergeben?Vergeben kannst du durch die Entwicklung deiner Bewusstheit. Vergebung heißt dann, dass du dein Denken über deine Schuld verändern musst. Und dabei hilft dir die Achtsamkeit. Werde dir im Moment, in dem das Schuldgefühl über dich oder jemand anderen entsteht, des gegenwärtigen Augenblicks gewahr. Durch bewusstes Atmen wirst du unmittelbar zum BeobachterIn deiner Gedanken als auch deiner Emotionen und hast dich dadurch bereits von ihnen getrennt.

Als BeobachterIn kannst du dich nicht mit deinen Gedanken oder Emotionen identifizieren und schaffst automatisch eine gewisse Distanz zu ihnen und durchbrichst dein unachtsames Muster. Da Beobachten und Bewerten nicht gleichzeitig stattfinden können, holst du mit der Beobachtung deine Gedanken in die Gegenwart und löst dich damit von deinem Ego-Verstand mit allen Gedanken und Erfahrungen aus der Vergangenheit, die zu deinem Schuld-Gedankenmuster gehören. Du beginnst dann augenblicklich, die Situation vorurteilsfrei und ohne die Einflüsse und Verzerrungen deiner Vergangenheit anzunehmen.

Die Situation bekommt nun eine gewisse Neutralität, so als ob du sie zum ersten Mal erlebst – wie ein unschuldiges Kind. In diesem Zustand der Achtsamkeit bzw. Bewusstheit wird sich das Schuldgefühl nach einer Weile auflösen, da du ihm keine Energie mehr durch die Gedanken und Bewertungen aus deiner Vergangenheit gibst.

Du bist jetzt in die Rolle des Beobachters geschlüpft! Als BeobachterIn kannst du nun dein intuitives Wissen – deine innere Weisheit – eine neue Deutung der Situation vornehmen lassen. Dein intuitives Wissen kommt aus deinem tiefen Inneren, nicht aus deinem Verstand. In dem du das Bewusstsein der Achtsamkeit durch Konzentration länger aufrecht erhältst, beginnst du automatisch tiefer zu schauen. Du findest Zugang zu deiner tieferen Weisheit und erkennst alles Wesentliche, dass du zur Lösung der Situation brauchst, ohne die Schuld zu verteilen. Durch dein intuitives Wissen wirst du eine gerechte Deutung und Entscheidung treffen. Du wirst dann nicht mehr von richtig oder falsch sprechen, sondern du wirst der Situation zustimmen oder sie zurückweisen. Die Schuld hat sich damit automatisch aufgelöst.

Mach es dir zur Gewohnheit! Denk bitte ab heute daran: Wenn du die leiseste Spur von Ärger, Gereiztheit oder einen Widerstand in dir verspürst, dass du dir unverzüglich klar machst, dass dein Ego ein Urteil gefällt und eine Schuld zugewiesen hat. Die Urteile des Egos können niemals gerecht sein, das ist leider so. Das Ego mit den inneren Mustern ist nicht in der Lage alle für eine gerechte Entscheidung erforderlichen Informationen einzuholen. Es hat in der Unachtsamkeit immer eine verzerrte Wahrnehmung.

Und genau dann nimmst du im Inneren eine negative Emotion wahr. Daran erkennst du gleich, dass die Bewertung nicht von deinem intuitiven Wissen kommen kann. Das ist das Signal für dich, wieder achtsam zu werden und augenblicklich in die wertfreie Beobachterrolle zu schlüpfen.

In der Achtsamkeit findest du die Ruhe und Klarheit, tief zu schauen und deine Gedanken über die Situation neu zu überprüfen. Du wirst zustimmen oder liebevoll zurückweisen. Und ohne zu urteilen, vergehen nicht nur die Gefühle von Schuld und Ärger, sondern auch das Gefühl der Sorge über deine Zukunft, denn der oder die BeobachterIn kennt die Zukunft nicht. Als BeobachterIn lebst du nur in der Gegenwart, im Jetzt.

Was heißt das jetzt für dich und uns alle? Nun hast du erkannt, wie trickreich unser Ego-Verstand funktioniert und dass nur deine Gedanken dafür verantwortlich sind, ob du dich schuldig fühlst oder nicht. Und du hast bestimmt schon am eigenen Leib erfahren, wie belastend Schuldgefühle sein können.

Stell dir bitte für einen Augenblick vor, was es mit unseren Kindern macht. Wie häufig geben wir unseren Kindern die Schuld für irgendwelche Kleinigkeiten, weil wir ihnen unser Urteil überstülpen. Haben wir ihnen einmal die Schuld für etwas gegeben, dann speichern sie es ab und fühlen sich immer wieder schuldig. Und wenn sie aus der Schuldfalle nicht rauskommen, dann wird sich das Schuldgefühl immer wieder zeigen. Solange unsere Kinder sich des Automatismus des Egos nicht bewusst sind, tragen sie die Schuld fast „ewig“ mit sich rum.

Also lasst uns beginnen, nicht nur uns selbst, sondern insbesondere unsere Kinder in der Bewusstheit und Achtsamkeit zu schulen, dass sie von klein auf lernen damit umzugehen und sich von ihrer Schuld befreien und wieder frei und unbeschwerter leben können. Ich brauche dir jetzt nicht mehr zu sagen, welch ein wunderbares Geschenk die Bewusstheit vor dem Hintergrund der Schuldfrage für uns und unsere Kinder und die vielen kommenden Generationen wäre. Denn was wir heute an Bewusstheit lernen, das geben wir weiter von Generation zu Generation.

Brauchst du als Organisation oder als Mensch unsere Unterstützung in der Bewusstseinsentwicklung, dann nimm gerne Kontakt mit uns auf. Wir freuen uns, dich zu unterstützen.