01/00
Entdecken
11. September 2020 #buch

Interview mit Andreas F. Philipp

geschrieben von SAATKORN

Welche Auswirkungen hat die Digitalisierung auf den Menschen und die Gesellschaft? Eine sehr wichtige Frage. Oft entsteht der Eindruck, dass technische und ökonomische Effizienzsteigerung der Imperativ unserer Zeit ist. Aber macht das wirklich Sinn?

Dieser Fragestellung geht das Autorenduo Dr. Andreas F. Philipp und David Christ in seinem neuen Buch „Postdigital – Mensch, wie wollen wir leben?“ nach. Dieses Interview mit Dr. Andreas F. Philipp erschien ursprünglich im Blog von Saatkorn.

 

Saatkorn: Herr Dr. Philipp, bitte stellen Sie sich den Saatkorn LeserInnen doch kurz vor.

Dr. Andreas F. Philipp: Nach einer relativ unbeschwerten Kindheit – als Nachzügler von Eltern aus der Kriegsgeneration – und einer etwas turbulenten Jugend – um ein Haar wäre ich ohne Schulabschluss gewesen – bin ich Mitte der 80er Jahre zu den Gebirgsjägern gegangen. Dort fand ich männliche Vorbilder, fördernde Vorgesetzte, einen leistungsorientierten Rahmen und große Nähe zur Natur, die heute wieder eine ganz besondere Rolle in meinem Leben spielt.

Durch Vorbilder angeregt, machte ich mein Abitur nach. Von Professor Hans A. Wüthrich aus St. Gallen inspiriert, studierte ich Wirtschaftswissenschaften und konnte mich mit einer sehr interdisziplinären Arbeit zum Thema „Die Selbstverantwortung der Betriebswirtschaft – Versuch einer gesellschaftsorientierten Haltung“ Ende der 90er Jahre preisgekrönt promovieren.

Parallel begann ich mit Seminaren und ersten Beratungsmandaten. Im Jahr 2000 gründete ich mit Dr. Dirk Osmetz, PhilOs – eine Managementberatung für Strategie-, Change und Organisationsentwicklung. 2007 stiegt Dirk Osmetz aus und baute Musterbrecher auf. Philos entwickelte sich unter meiner Geschäftsführung zu einer immer lebendigeren Beratung weiter. In den Jahren 2004 bis 2016 waren wir v.a. viel in der Automobilindustrie tätig, konnten mit partizipativen Strategie-, Organisationsentwicklungs- und Changeprozessen einiges bewegen.

2001 Heirat, danach Geburt meiner beiden Töchter Sophie und Anna. 2005 gründete ich die Philos-Stiftung „3-zum-Leben“: der Versuch, soziale Verantwortung praktisch zu leben. 2016 dann der „Einschlag“. Von einem Vortrag über Künstliche Intelligenz angezündet, wurde mir bewusst, dass Digitalisierung und Künstliche Intelligenz alles verändern kann. Mein bis dahin ziemlich geordnetes Leben, kam stark in Bewegung. Innere und äußere Prozesse wurden heftig angestoßen.

Nach Außen entstand in den letzten Jahren: Das Buch “Postdigital – Mensch, wie wollen wir leben”. Aufbau der Plattform “postdigital.works” – für ein gutes Leben von Mensch, Unternehmen und Gesellschaft. Mentor für initiatorische Männerarbeit. Die eigentliche Transformation fand aber im Innen statt: Heftige Krise, Trennungen, sieben Umzüge in zwei Jahren, tiefere Erkenntnis, umdenken, schrittweise Reduzierung meines Lebens zur Essenz.

Heute sehe ich mich als Übersetzer und Wegbegleiter in einer immer komplexeren Welt. Ich verbinde meine bisherigen Lebens-Erfahrungen und möchte diese möglichst dienend der Welt zur Verfügung stellen. Als Brückenbauer versuche ich Denkweisen und Menschen in einer konstruktiven Form zusammen zu bringen. Als Impulsgeber setze ich Gedankenanstöße für den Aufbau einer Postdigitalen Welt. Als Wegbegleiter fungiere ich mentorisch und initiatorisch – dies mit viel Humor. Und: „Gott hat mich immer mehr an seinem Haken“.

In der Stille (in Klöstern und vor allem in der Natur) bekomme ich klare Bilder für meinen Lebensauftrag. Mit verschiedenen Kreisen setze ich diese um. Dabei liegen mir vor allem die Männer-Initiation und die Jugend sehr am Herzen. In einigen ausgewählten Beirats- und Beratungsmandaten nehme ich weiterhin ganz „klassisch“ Einfluss auf den Gang der Dinge. Man könnte sagen: Zweidrittel meiner Zeit gehören Gott und dem Dienst an der Welt (inklusive der Fürsorge für meine Töchter und meines sozialen Engagements). Ein Drittel ist Business. Dieses Verhältnis erfüllt mich. Gleichsam stellt es eine ständige Herausforderung dar, das rechte Maß und Balance zu halten – aus meiner Sicht eine der wichtigsten Fähigkeiten, um in diesen Zeiten fokussiert zu bleiben und Orientierung geben zu können.

Saatkorn: Soeben haben Sie zusammen mit David Christ Ihr neues Buch „Postdigital – Mensch, wie wollen wir leben?“ veröffentlicht. Worum geht es und wie sind Sie auf die Idee zu dem Buch gekommen?

Dr. Andreas F. Philipp: Der Funke zum Buch entstand im Jahre 2016 nach einem Vortrag von Nicanor Perlas, Friedensaktivist, Politiker, Träger des Alternativen Nobelpreises und Initiator der internationalen „Artificial Intelligence Task Force“. Zuerst war ein Business-Buch zu den Chancen der Digitalisierung für Unternehmen und für das Thema „New Work“ geplant.

Dann kam David Christ, ein exzellenter Soziologe, der bei Hartmut Rosa magistriert hat und gerade über den Paradigmenwechsel promoviert, auf die Bühne. Er bewarb sich als Junior-Berater bei Philos. Schnell wurde klar, dass wir einen anderen Auftrag haben. „Postdigital (das anfangs Digitalisierung.Mensch., hieß) – Mensch, wie wollen wir leben“, war geboren.

Auf der sachlichen Ebene geht es in unserem Buch um eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Themen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) sowie deren Folgen für den Menschen und die Gesellschaft. Ausgehend von der Kant’schen Frage „Was ist der Mensch“, und der immerwährenden gesellschaftlichen Frage, „Wie wollen wir leben“,  befassen wir uns mit dem Einfluss von Daten, KI und digitalen Tools in alle gesellschaftlich relevanten Bereiche unseres modernen Lebens. Anhand von sieben Lebensfeldern (Leben, Arbeiten, Glauben, Lernen, Wirtschaften, Politisch steuern, Kooperieren) setzen wir uns mit den Chancen und Gefahren der Digitalisierung auseinander.

Im Ergebnis kommen wir zu dem Schluss: Digitalisierung, wie sie heute hauptsächlich betrieben und eingesetzt wird, führt zur weiteren Technisierung und Automatisierung aller Lebensbereiche, mit dem Ziel maximaler Effizienzsteigerung, deren exorbitanten Gewinne immer wenigeren zugutekommen. Durch Einsatz von Künstlicher Intelligenz wird dabei der Mensch zunehmend von Maschinen, Robotern, Avataren, Apps, Daten … bis hin zur „Spiegelung“ seines Bewusstseins in der Daten-Cloud … ersetzt, in letzter Konsequenz aufgelöst.

Etwas tiefer geblickt, geht es in dieser Thematik also um nichts Geringeres als um das Überleben der Menschheit – zumindest des Menschen in der Form, in der wir ihn heute kennen. Also als Homo Sapiens, der mit einem freien Geist ausgestattet in seinem Körper auf dieser Erde wirkt und mit Hilfe seiner Seele das verarbeitet, was er erlebt … und an seinen Erlebnissen wächst. Wenn wir diesen Menschen den „Gurus“ aus dem Silicon Valley und deren millionenfachen Anhängern weltweit überlassen, dann wird dieser Homo Sapiens zum Homo Digitalis, zum Cyborg, der sich letztendlich, gottgleich, zum Homo Deus erheben möchte. Das alles entscheidet sich in den nächsten 20-25 Jahren.

Um darauf aufmerksam zu machen und gleichsam einen gesellschaftlichen Diskurs anzustoßen, was das für unser Leben bedeutet und wie wir letztendlich leben wollen, … darum haben wir dieses Buch geschrieben.

Saatkorn: Einer meiner Lieblingssätze im Kontext Digitalisierung ist: „Nur weil es technologisch möglich ist, muss man ja nicht alles machen.“ Man kann sich als Ergebnis einer konsequenten Digitalisierung gut eine dystopische Zukunft vorstellen, in der das Menschliche nicht mehr viel zu melden hat. In Ihrem Buch stellen Sie die in meinen Augen berechtigte Fragestellung, wieviel Digitalisierung wir als Menschen wirklich wollen. Aus meiner Sicht ist das Problem nur: die Menschheit ist sich bei solchen Fragestellungen ja selten einig. Und die Geschichte zeigt, dass technologisch bislang doch ausgereizt wurde, was zum entsprechenden Zeitpunkt möglich war. Wie also könnte unsere Gesellschaft diese Herausforderung in den Griff bekommen?

Dr. Andreas F. Philipp: Fangen wir bei der dystopischen Zukunft an. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, dass wir an einem Scheidepunkt stehen, bei dem Jeder ganz persönlich aufgerufen ist, Farbe zu bekennen und sich zu positionieren. Zwei zentrale Entwicklungen sind dabei von entscheidender Bedeutung:

  1. Wollen Sie, dass Technik und Künstliche Intelligenz in allen Bereichen Ihres Lebens die Steuerung übernimmt? Wir letztendlich selbst zur Mensch-Maschinen-Intelligenz, zum CybOrg werden? Ich meine das ernst: Versuchen Sie zu fühlen, was das bedeutet, wenn in maximal 25 Jahren (das ist der von Ray Kurzweil, Guru der Digitalisierungs-Gurus im Silicon Valley, ausgerufene Zeitraum für den „Point of Singularity“, also dem Moment, an dem KI den Menschen in allen Bereichen überflügelt hat) dieser Zustand erreicht ist. Wenn Sie, Ihre Kinder, Ihre Enkel in dieser digital-superintelligenten Matrix aus dann 6G oder 7G-Netzen, komplettem Bewegungstracking, lückenloser Datenaufzeichnung, autonom gesteuerter Mobilität, VR-Welten, 90% Online-„Kommunikation“ usw leben. Versuchen Sie zu fühlen. … und dann entscheiden Sie sich, bei jedem technischen Produkt, jeder App, jedem Streamingdienst und jedem Online-Einkauf, … ob das sein muss oder nicht?! Das ist die Eigen-Macht, die jeder von uns selbst hat.
  2. Ist unser Handeln in gesellschaftliche Realitäten eingebettet. Das heißt die Politik ist unter Einbindung der Wirtschaft, mächtiger Interessensverbände, des Rechts-, Bildungs-, Mediensystems und der Zivilgesellschaft aufgerufen, demokratische Partizipationsprozesse zu den Fragen „Wie viel Digitalisierung wollen wir? Wie wollen wir leben“ zu initiieren. Wie das aussehen kann, haben wir in Kapitel 11.2 unseres Buches skizziert.

Schließlich noch ein Gedanke zum Ausreizen des technischen Fortschritts: Technischer Fortschritt per se ist nicht das eigentliche Problem. Welchem Geist er entspringt, welchem Zweck er dient und auf welchen Nährboden er fällt, wird zur entscheidenden Größe. Was wir zum jetzigen Zeitpunkt sagen können, ist, dass Digitalisierung unter rein kommerziellen (kapitalistischen) Gesichtspunkten mittel- bis langfristig kein glückliches Geschwisterpaar bilden. Hier kommen wir an einer Weiterentwicklung unseres heutigen Wirtschaftssystems nicht vorbei.

Bereits 1903 hat Rudolf Diesel – ja genau der Diesel, mit dessen Antrieb sich ca. 30% von Ihnen, liebe LeserInnen, täglich fortbewegen – in seinem Buch „Solidarismus: Natürliche wirtschaftliche Erlösung des Menschen“, eine wirtschaftende Solidar-Gesellschaft beschrieben. Zu ähnlicher Zeit entstand Rudolf Steiners soziale Dreigliederung, die von einer „Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben“ spricht. Gut 100 Jahre später sind wir – vom Mindset her – in der Lage, diese Ideen „zu denken“ und in eine neue Form des Wirtschaftens zu übersetzen.

Saatkorn: Wie könnte diese neue Form des Wirtschaftens aussehen? Und welche Handlungsempfehlungen würden Sie UnternehmenslenkerInnen geben? Diese befinden sich ja in einem ökonomischen Effizienzwettbewerb. Dieses immer schneller, höher, weiter stößt offensichtlich an seine Grenzen. Wie aber können wir das ändern?

Dr. Andreas F. Philipp: Das ist definitiv eine sehr anspruchsvolle Frage – vielleicht die anspruchsvollste überhaupt. Wir befinden uns in einem Paradigmenwechsel – einem der größten in der modernen Menschheitsgeschichte. Klar ist, dass es nicht so weiter gehen wird, wie bisher. Unser Ressourcenverbrauch ist viel zu groß. Ein durchschnittlicher Europäer „verlebt“ das drei- bis fünffache dessen, was ihm die Erde zugestehen kann.

Unser Wachstumsparadigma war gut für das letzte Jahrhundert, jetzt brauchen wir ein neues Wirtschaftsmodell, das viel mehr auf Teilen, Kooperation, Gemeinwohl und Erdenschonung ausgerichtet ist. Und zwar, ganz praktisch, durch Anreize, Steuern, Finanzierungsmodelle usw., die dieses Verhalten begünstigen und das bisherige Verhalten monetär mächtig „bestrafen“. Sonst wird uns das „Korsett der Gesellschaft“ (Adorno) immer wieder auf „alte“ Verhaltensmuster zurückwerfen: Ich, Meins, Gewinnmaximierung. … mit dem Dilemma, dass diese Werte nicht mehr die richtigen Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts liefern können.

Internet, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz können dabei eine überaus wertvolle Rolle einnehmen. In ihrem Ursprung öffnen sie das Wissen der Welt für alle. Sie sind (basis-)demokratisch angelegt. Stellen den neuestens Stand der Technik zur Lösung (gesellschaftlicher) Probleme zur Verfügung. Ermöglichen Transparenz. Unterstützen Vernetzung und damit Clusterbildung für heterarische und dezentrale Problemlösungen. Stärken die Zivilgesellschaft und binden damit einen viel weiteren Kreis an Verantwortlichen ein.

Das aber nur, wenn wir diese „Technologien“ und die dahinter liegenden Geschäftsmodelle nicht auf dem „heutigen Betriebssystem“ von grenzenlosem Wachstum, Gewinnmaximierung, Eigennutzoptimierung laufen lassen. Diese (neoliberale) Wirtschaftstheorie, die sich übrigens überholt hat (Menschen sind weder von Geburt an Eigennutzmaximierer, noch gibt es eine unsichtbare Hand des Marktes, der auf globaler Ebene die Geschehnisse regeln würde), und alles, was wir daraus gemacht haben, verdreht einen Großteil der Potentiale, die in der Digitalisierung stecken.

Amazon, Google, Facebook, Apple usw. stellen, zumindest teilweise, wertvolle Produkte und Dienste für die Welt zur Verfügung. Dass deren Erträge aber ausschließlich monetarisiert werden und als Gewinne dann nur sehr wenigen zur Verfügung stehen, während sehr viele den (sozialen) Preis dafür bezahlen (sehen Sie sich die „Silicon Valleys“ dieser Welt und deren Preisexplosionen bei Mieten e.a. an) ist schlichtweg ein „Systemfehler“, den wir uns nicht mehr leisten können. Entweder wir beheben ihn aktiv, oder der Plattform-Kapitalismus wird sich selbst ad absurdum führen.

Studiomusiker, Künstler, Freiberufler, Trainer, Online-Content-Anbieter, Freelancer etc. erleben es ja bereits, wie ihre Honorare durch „Vermittlungsplattformen“ unter Druck kommen. Der Einzelhandel ächzt unter der Marktmacht der Online-Giganten. Uber und Airbnb verändern die Marktgesetze für Personenbeförderungs- und Beherbergungs-Dienstleistungen. Und es geht rasant weiter: Maximale Effizienz führt in nicht allzu ferner Zeit zu einer Null-Grenzkosten-Ökonomie, in der Dinge zu Daten werden, und wir z.B. via 3-D-Druck, physische Produkte so günstig herstellen können, dass wir einen extremen Margenverfall bei allen Produkten erleben werden. Das Prinzip der bezahlten Leistung für Produkte und Dienste funktioniert dann nicht mehr.

Das alles ist natürlich keine ganz einfache Ausganglage für Unternehmenslenker. Sie müssen die kurzfristige Realität (hier generiert die Digitalisierung noch große Gewinnmargen), mittelfristige Ziele (hier wird es schon ziemlich unklar) von einer langfristigen Strategie unterscheiden können. Wobei schwer einzuschätzen ist, wann welcher Zustand erreicht sein wird. Dennoch ist die Botschaft klar: „Change or die“. Aber wohin geht dieser Change?

Mutige Unternehmer entwickeln bereits heute eine eigene Vision von der Zukunft. Wenn diese ganzheitlich sein soll, bezieht sie die Konsequenzen der eigenen unternehmerischen Entscheidungen für alle Stakeholder mit ein. Konkret: Wie weit erfüllt unsere Vision die Kriterien der Gemeinwohlökonomie? Wie sieht es mit den 17 UN-Zielen für nachhaltige Entwicklung aus? Wie ist unser unternehmensweiter, ökologischer Fußabdruck? Wie fair ist unsere Wertschöpfungskette? Kann jeder an der Wertschöpfung Beteiligte von seinen Erträgen (gut) leben?

Wie transparent ist unsere Unternehmenspolitik nach innen und außen? Wie kooperationsfähig sind wir? Sind unsere internen Strukturen und Prozesse agil genug, um schnell auf Veränderungen reagieren zu können? Ist unsere Unternehmenskultur in der Lage, gegensätzliche Anforderungen zu meistern (z.B. Liefersicherheit und ständige Innovation)? Haben wir das Mindset sowie Methoden und Tools, um mit Komplexität umzugehen? Können wir Entscheidungen unter Unsicherheit treffen? Welche systemischen Werkzeuge helfen uns dabei, aus der Linearitätsfalle von eindimensionaler Ursache und Wirkung auszubrechen. Und so weiter, und sofort.

Auf den Punkt gebracht: Unternehmenslenker müssen viel breiter als bisher denken und handeln können. Es reicht nicht mehr, sich auf die Rolle des effizienten Gewinnmaximierers zurück zu ziehen. Weit werden, vernetzen, einbinden, Widersprüche aushalten und den Dialog der Generationen führen können … werden zu zentralen Leadership-Kompetenzen. Bauen Sie sich ein kleines Team auf Augenhöhe auf, das die Multi-Pluralität der Welt widerspiegelt. Dann werden sie die richtigen Entscheidungen treffen können, wenn sie anstehen.

Saatkorn: Wie könnte aus Ihrer Sicht eine menschenfreundliche Zukunft im Arbeitskontext gestaltet werden, welche Grundvoraussetzungen müssten dafür erfüllt sein?

Dr. Andreas F. Philipp: Glaubwürdige Transparenz, Selbstorganisation und Achtsamkeit dürften zu den Top 5 Werten für eine menschenfreundliche Arbeitskultur gehören.

Achtsamkeit führt zu Mitarbeiterzufriedenheit und zu einer höheren emotionalen Mitarbeiterbindung. Aus den Gallup-Studien der letzten 25 Jahre wissen wir, dass dies Effizienzsteigerungen von bis zu 30% zur Folge hat.

Selbstorganisation regelt Rollen, Verantwortlichkeiten, Prozesse, Abläufe usw. auf eine flexiblere und modernere Art, als dies die funktionale oder Matrix-Organisation kann. Menschen empfinden das als wertschätzend, sie bringen sich mehr ein, übernehmen mehr Verantwortung und handeln deutlich wirkungsvoller im Sinne der (Gesamt-)Sache.

Durch die Transparenz der digitalen Medien und durch die schnelle Wechselbereitschaft der jungen Generationen, wird es für Arbeitgeber in Zukunft besonders wichtig, den Eindruck, den sie als Arbeitgeber im Employer Branding nach außen geben, auch nach innen glaubwürdig zu leben. Die Generationen Y und Z sind da nicht sehr geduldig. Wenn es hier zu einer größeren Diskrepanz kommt, strahlt das sofort nach außen, macht via digitaler Medien schnell die Runde und schwächt die Glaubwürdigkeit der Marke nachhaltig.

 

Und das ist wesentlich mehr als ein weicher Faktor, es sichert die dauerhafte Schlagkraft und Effizienz des Unternehmens und damit sein Überleben nachhaltig. Diese Wertorientierung und „postdigitale“ Co-Kreationsfähigkeit wird zu einer ziemlich „harten Währung“ für erfolgreiche Unternehmen der Zukunft werden.

Das klingt jetzt alles etwas nüchtern und sehr business-lastig. Entscheidend ist die Haltung, aus der heraus alles entsteht. Wenn ich Menschen ausnutzen möchte, um noch mehr Leistung aus ihnen herauszuholen, dann kann ich noch so viele Achtsamkeitskurse und Yoga-Mittagspausen anbieten, … sobald die Abhängigkeit des Mitarbeiters von meinem Unternehmen weg ist, wird er gehen … und das ist gut so, um einen ehemaligen Berliner Bürgermeister, etwas kontext-verändert, zu zitieren.

Saatkorn: Wie optimistisch sind Sie persönlich in Bezug auf eine humane Zukunft?

Dr. Andreas F. Philipp: Sehr optimistisch. … pessimistisch zu sein, bringt ja keinerlei Mehrwert (lacht).

Freiheit, Liebe und das Licht (Helle, Schöne, Wärmende) setzen sich immer durch. … wenn nicht auf Erden, dann im Himmel, hätte ich fast gesagt (lacht wieder).

Spaß beiseite. Die Menschheit erwacht. Es gibt sehr berechtigte Hoffnung, gestützt von wissenschaftlichen Erkenntnissen aus allen Bereichen (Neurowissenschaft, Kognitionsforschung, Verhaltensbiologie, Quantenphysik usw.), dass es uns immer bewusster wird, wie wir mit den großen Fragen integral umgehen können.

Und, wir haben die jungen Menschen. Sie stehen auf, stehen für eine Sache ein. Diesmal heißt die Sache „Überleben dieser Erde“. Wir Erwachsenen müssen alles dafür tun, diese Bewegung zu unterstützen. Der Schmerz der Jugend ist deutlich zu hören. Unsere Aufgabe ist es, Zeit, Geld und alle notwendigen Ressourcen, sowie vor allem unsere Erfahrung dienend zur Verfügung zu stellen. Wir haben Brücken zu bauen und die Sprache der jungen Menschen in praktikable Handlungen zu übersetzen. Gerade im Feld der Digitalisierung sind wir besonders gefordert. Hier dreht sich das „Weltenprinzip“ zum Teil um: Die Jugend ist die Wissende, was Technik und Anwendung betrifft. Wir Älteren haben einen weiteren Blick, welche Folgen die Digitalisierung für Geist, Körper, Seele und Gesellschaft haben kann. Was wir brauchen, ist einen vorurteilsfreien, generationenübergreifenden Dialog.

Jeder – und das gilt insbesondere für Unternehmenslenker, Politiker und gesellschaftlich Exponierte – ist jetzt aufgefordert, radikal (im Sinne von radix, radicis = an die Wurzel gehend) sein Denken und Handeln zu überprüfen und sich für Kooperation, Gemeinwohl und Erdenverträglichkeit stark zu machen. Sehen Sie sich z.B. Prof. Klaus Schwab vom World Economy Forum aus Davos an. Er hat in den letzten drei Jahren mehr an seinen Botschaften für die (Wirtschafts-)Welt geändert als in den über 30 Jahren davor. … und Schwab ist nun ja wirklich nicht das Paradebeispiel eines naiven Aktivisten, oder?

Um mich nochmals klar auszudrücken: Natürlich sehe ich die Spannungen und Widersprüche, die in der Welt vorherrschen, sehr deutlich. Noch nie zuvor waren wir als Menschheit mit so vielen Einzelvorstellungen, auf denen wir erst einmal beharren wollen, unterwegs, wie heute. Ich sehe das aber als notwendige Vorstufe an, um uns im nächsten Schritt auf einen gemeinsamen Weg zu machen. So, wie ein mächtiges Gewitter, das reinigend über die Welt fegt, bevor diese neu erblühen kann. Auch hier ist die Digitalisierung ein Beschleuniger dessen, was bereits da ist.

Wir nennen das Postdigital – ein gutes Leben für die gesamte Menschheit ist möglich. Da bin ich sehr, sehr zuversichtlich, dass Gottes Hand den „richtigen Plan“ hat (lächelt entspannt).