01/00
Entdecken
07. März 2021 #reflection

Woran glaubst Du? Alltags- und Ersatzreligionen

geschrieben von Dr. Andreas F. Philipp

Aus unserem Buch POSTDIGITAL – Mensch, wie wollen wir leben?

geschrieben von Andreas F. Philipp und David Christ | Postdigital (businessvillage.de)

 

03.03.2021 · In der modernen Gesellschaft lassen sich zahllose religiös anmutende Phänomene in allen Kultur- und Gesellschaftsbereichen finden. Dies scheint umso überraschender, da wir in einer durch Wissenschaft und Aufklärung rational geprägten Gesellschaft vieles, nur das nicht vermuten würden. Sind Alltags- und Ersatzreligionen an die Stelle Gottes getreten? Welche sind das? Und was macht das mit uns, wenn das Sakrale dem Profanen zu weichen hat – als Mensch … aber auch als Gesellschaft?

Was haben Sie nächsten Sonntag vor?

Es gab eine Zeit, da gingen Menschen sonntags gemeinsam in die Kirche, um GOTT anzubeten. Sie wurden damit Teil von etwas Größerem, Besonderem, Heiligem, also Sakralem. Der Kirchenbesuch erhielt seine spezielle Bedeutung durch die Abgrenzung von der restlichen, profanen und alltäglichen Arbeitswoche. Das seltene Sakrale setzte sich ab vom Profanen – gab diesem erst seinen Sinn. Der Gegensatz strukturierte den Alltag des Gläubigen und bietet ihm eine psychische Ablenkung vom Profanen, vom „verfluchten“ Alltagsgeschehen.

Und heute? Welche sakral anmutenden Phänomene strukturieren unseren heutigen Alltag?

Der wöchentliche Stadionbesuch? … zumindest vor Corona:

Große Menschenmassen kommen zusammen und verehren ihre Idole auf dem Fußballfeld – abstrakt und anonym. Sie bilden dabei buchstäblich eine Glaubensgemeinschaft, als ständen Übermenschen oder Götter vor ihnen. Der wöchentliche Stadionbesuch (oder zumindest das Sportschau-Wochenende) nimmt eine strukturierende Stellung im Leben des Fußballfans ein, der die profane Arbeitswoche überstrahlt. Das Alltägliche wird vom „Heiligen“ abgelöst und somit erträglich gemacht.

Oder globale Markenunternehmen im modernen Kapitalismus:

Hatten nicht die Auftritte von Steve Jobs bei der jährlichen Vorstellung des neuen iPhone etwas prophetenhaftes? Erschien hier nicht mehr ein weltweit verehrter Guru, denn ein CEO eines Technologiekonzernes? Wie ist es rational zu erklären, dass Menschen den Markteintritt eines Produktes mit gemessen an seinen Produktionskosten exorbitanten Preisen, das unter zum Teil unmenschlichen Produktionsbedingungen erstellt wird, geradezu herbeisehnen, sodass sie sogar bereit sind, vor Apple-Shops zu übernachten, um das neue, heilige Produkt als einer der Ersten anzufassen?

Werbung und Marketing arbeiten gezielt mit Glauben und Hoffen – bezogen auf unsere innerweltlichen Zukunftswünsche. Sie zeigen eine heile, fast paradiesische Welt. … wer das Produkt kauft, gehört zu den „Außerwählten“, wird zum Follower des Marken-„Propheten“, ist Teil einer globalen Fan-Gemeinschaft. So werden Marken in der modernen Gesellschaft verherrlicht, geradezu überweltlich. Apple stellt dabei wieder ein besonders interessantes Beispiel dar: Das Firmenzeichen mit dem abgebissenen Apfel beinhaltet sogar eine explizit religiöse-biblische Symbolik – die der paradiesischen (Ur)-Schuld von Adam und Eva.

Aber auch bezüglich der wichtigen Funktion der Welterklärung zeigen die groß angelegten Ideologien des letzten Jahrhunderts Ersatzreligionscharakter. Als quasi-religiöse Bewegungen gaben sie dem Alltag der Menschen Struktur, teilten die Welt ideologisch in Gläubige/Nicht-Gläubige oder Zugehörige/Nicht-Zugehörige ein und hatten das Versprechen eines innerweltlichen Paradieses im (Gebets-)Buch:

So predigte beispielsweise der Kommunismus, als dezidiert atheistische Gegenbewegung zum Religiösen, das (Glaubens-)Versprechen, ein Paradies einer klassenlosen Gesellschaft ohne soziale Unterschiede, Ungerechtigkeit und Ungleichheit auf Erden zu schaffen.

Der Nationalsozialismus war eine besonders zynische Variante dieses Paradieses und integrierte in seine Erzählung die Erlösung durch eine rassisch reine, übermenschliche, also quasi göttliche Bevölkerung.

In eine ganz andere Richtung geht die vor allem nach dem zweiten Weltkrieg zunehmend wachsende Gläubigkeit an den freien Markt, der sich selbst anhand von Marktgesetzen reguliert und durch eine unsichtbare Hand die Dinge wundersam im Reinen hält.

Und wie sieht es mit Technologie, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz aus? Haben diese bereits die unwiderrufliche Rolle einer Ersatzreligion für die moderne Gesellschaft übernommen?

Wenn es nach dem Transhumanismus geht, auf jeden Fall. Sich auf die neuesten Technologien beziehend, geben sich Transhumanisten besonders rational und streng wissenschaftlich. In Abgrenzung zur Religion, die man in transhumanistischen Kreisen eher verachtet und lächerlich macht, sieht sich der Transhumanismus als eine elitäre, rationale und überlegene Weltanschauung. Die transhumanistische Bewegung ist, wenn wir von den spezifischen technischen Themen in den verschiedenen Wissenschaftsbereichen, auf die sie sich bezieht, etwas abstrahieren, ideengeschichtlich vor allem eine Antwort auf die Lücke, die der von Nietzsche besagte „Tod Gottes“ (Wir glauben nicht mehr!), hinterlassen hat. Ein „fiktiver“ Gott wird durch eine real technische Informationsherrschaft ersetzt. Wobei diese Herrschaft tatsächlich viel realer und wirksamer wäre, als jede geschichtliche Denkform einer nur imaginierten Existenz und Herrschaft Gottes auf Erden jemals hätte sein können. Denn, …

  • Transhumanisten glauben, dass sich die gesamte Wirklichkeit – bis hin zum biologischen Leben – letztlich auf ein Prinzip reduzieren lässt, … nämlich das der Information. Ähnlich wie im Gottesglauben die ganze Existenz von Gott erfasst ist, ist die Gesamtwirklichkeit hier von der Information, die sich in die Datencloud uploaden lässt, erfasst. So wird aus dem Göttlichen, mit dem wir spirituell überall verbunden sind, ganz real Big Data beziehungsweise die Datencloud, die uns rundum im Blick hat.
  • Transhumanisten sind von der Vision eines geistigen und körperlichen Superwesens angetrieben – einer künstlichen Superintelligenz, einem Cyborg. Diese tritt durch die Fortschritte der Wissenschaft an die Stelle des ursprünglichen Menschen und nimmt mit denen ihm zur Verfügung stehenden Technologien die Evolution selbst in die Hand. Dieses Technologie-Mensch-Wesen wird zum Evolutionsdesigner, macht sich zum Schöpfer über Leben und Tod … und wird so, ganz praktisch, zu dem, was man über Jahrhunderte ausschließlich Gott zugeschrieben hat.
  • Besonders komplex wird das Verhältnis von religiöser Botschaft, Ideologie und Wissenschaft, wenn man sich bewusst macht, wie stark der Transhumanismus mit dem Gedankengut der Technologiegläubigkeit hinterlegt ist. Technik und nur Technik sind der Motor der Geschichte, aus dem heraus alle möglichen Formen sozialen, kulturellen und politischen Wandels hervorgebracht werden, die dann diesen technischen Revolutionen ständig hinterherhinken … mit der Konsequenz, dass sich der Mensch permanent diesem technischen Veränderungsdogma anzupassen hat. Die Technik führt Mensch und Gesellschaft, nicht andersherum.
  • Schließlich setzen Transhumanisten auf eine ähnliche Grundbotschaft, wie wir sie seit Jahrtausenden aus den Weltreligionen kennen. Der Philosoph Thomas Metzinger nennt es das »Produkt der Sterblichkeitsverweigerung«. Nur, dass Transhumanisten nicht auf das Jenseits verweisen, sondern bereits für das Diesseits die Idee eines innerweltlichen Paradieses verkaufen, in dem es keinen Tod und keine Krankheiten mehr gibt. Homo Deus!

Bleibt bei so viel technologischer Beherrschung der Welt noch Raum für die Welt, in der wir leben wollen? Wollen wir eine Welt, die uns durch digitale Realitäten jegliche Form von analogen Utopien nimmt? Letztendlich: Wie möchtest Du leben? Und …

Woran glaubst Du? … mit dieser Frage befassen wir uns bei POSTDIGITAL im Jahre 2021 intensiv. Gib uns Deine Antworten! Steig mit uns in den Dialog ein, wie wir leben wollen! Wir freuen uns darauf.